Event
08.06.24 – 14.08.24

"FREE TIME" / DIE „FREIE ZEIT“

"FREE TIME" / DIE „FREIE ZEIT“

Anamarija Batista & Iva Simčić, Renate Bertlmann, Anna Hofbauer, Maria Meinild, Marietta Mavrokordatou, Joëlle Tuerlinckx, Pınar Öğrenci

Kuratiert von Anamarija Batista (in Kooperation mit Ivana Marjanović)

Die Frage nach der „freien Zeit“, also nach der Zeit, in der wir uns von Aufgaben der Existenzsicherung befreien, um etwas anderes zu tun, wird im Zuge der digitalen Transformation neu verhandelt. Es ist eine Zeit, in der wir die Möglichkeit haben, uns frei zu bewegen, die Menschen zu treffen, die wir treffen wollen. Es ist eine Zeit der Emotionen, der Annäherung und des Diskurses. Es ist eine Zeit des Nachdenkens. Es ist eine politische Zeit, die Veränderungen vorbereiten kann. Es ist die atmosphärische Zeit, die Zeit des Eintauchens.

Es ist jedoch nicht nur die „freie Zeit“, die verhandelt wird, sondern auch die damit verknüpften Orte und Praktiken. Freie Zeit ist auch mit Wegen, Zeitlichkeiten usw. verbunden. Ob sie nun an analogen oder digitalen Orten stattfindet – beispielsweise in Cafés, auf Plätzen, in Parks, am Meer oder bei digitalen Spielen – sie ist mit Begegnungen, Aufregung, Entspannung und Inspiration verbunden.

Diese Ausstellung will über die Verhandlung von „freier Zeit“ nachdenken, indem sie ihre ästhetischen Schichten und atmosphärischen Wolken erkundet. Was assoziieren wir mit „freier“ Zeit? Wie verändern sich unsere Assoziationen im Zuge der Intensivierung konsumkritischer Praktiken, neuer Privatisierungswellen und Krisen? Inwieweit ist „freie Zeit“ politisch und wie verhält sie sich zu Fragen der Transformation?

Im Kontrast zum Freizeitprogramm, das in der Regel von anderen bereits vorstrukturiert und organisiert wird, lässt sich die freie Zeit nach Belieben gestalten. Sie zeichnet sich ebenfalls durch Kontinuität und wiederkehrende Aktivitäten aus. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass sie von der eigenen Neugier und Gelassenheit gesteuert wird und nicht, wie gewöhnlich im kapitalistischen Produktionsprozess, dafür eingesetzt wird, dass ein Mehrwert erzeugt wird. In der Regel treten die Menschen dann in Beziehungen ein, die außerhalb des zweckorientierten politisch-wirtschaftlichen Korsetts liegen. Alles, was erstmal hier verteilt und geteilt wird, ist die Zeit und der Raum.

Es existieren gesellschaftliche Zeitvereinbarungen, die vorsehen, dass gewisse Zeitintervalle wiederkehrend arbeitsfrei sind. In der Regel ist ein Tag in der Woche als kurzer Zeitintervall oder ein Urlaub als längere Zeit für die Erholung gedacht. Die freie Zeit wird gesellschaftlich immer als ergänzend zur Arbeitszeit vorgesehen. Es ist eine Zeit, in der man sowohl private Aufgaben wie Haushalt und Einkäufe regelt, soziale Beziehungen pflegt, als auch die Zeit, in der man herumgeht, sich trifft und verreist.

Im Grunde wird seit der Industrialisierung die Zeit in Arbeitszeit, die man meistens in der Arbeitsstätte verbringt, und arbeitsfreie Zeit unterteilt. Die Frage der Zeit ist wesentlich vom Umstand geprägt, wie sich das allgemeine Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch & Konsumation gestaltet. Karl Marx beschreibt den Prozess der Produktion als eine Zeit, in der Naturressourcen in Waren umgewandelt werden. Das ist die Zeit, in der der Mensch zweckorientiert im Rahmen bestimmter Machtverhältnisse und Formen der Arbeitsteilung seine eigene Zeit als Tauschmittel für monetäre Vergütung zur Verfügung stellt. In der Phase der Distribution werden genau diese Verhältnisse der Teilnahme an der Produktion und ihre Arten und Weisen festgelegt: wie viel Zeit man für bestimmte Tätigkeiten braucht, welche Art des Tausches und der Teilung sowohl monetär wie machtbezogen einer*einem zugeordnet/zugewiesen wird.

Dieses Distributionsverhältnis entscheidet, wieviel eigene Zeit in den Produktionsprozess fließt, aber auch wie die kollektiv genutzte Zeit im Rahmen eines Produktionsprozesses umverteilt wird. Im nächsten Moment wird durch den Austausch das Distributionsverhältnis meist in monetäre Einheiten aufgeteilt. Diese Verteilung ist eine gesellschaftliche Entscheidung dahingehend, wie Zeit kollektiv und einzeln eingesetzt, distribuiert und geteilt wird. In der Phase der Konsumtion wird Zeit als arbeitsfreie Zeit/unvergütete Zeit bewertet. Es ist die Zeit der individuellen Aneignung von Waren und Räumen. „[...] endlich in der Konsumtion werden die Produkte Gegenstände des Genusses [...]“ (Marx & Engels 1961). Es ist erstmals die freie Zeit, die selbstbestimmt gestaltet wird, auch wenn die Gesellschaft bestimmte Vorschläge macht und gewisse Notwendigkeiten in diese Zeit hineinprojiziert. Es ist die Zeit, in der man weder bezahlte noch unbezahlte Arbeit leistet.

Aktuell ist eine klare Grenze zwischen der Arbeitszeit und der freien Zeit oft nicht gegeben bzw. schwer zu ziehen. Das Individuum soll in vielen Fällen diese Aufgabe selbst lösen, auch gerade dann, wenn es um prekäre strukturelle Rahmenbedingungen geht. Die Grenzen zwischen Selbstbestimmung, Selbstoptimierung und vergüteter Arbeit verschwimmen. Man ringt um das Gleichgewicht. Die Zeiträume sind verdichtet und die Aufgabe klare Zeithorizonte zu ziehen, ist erschwert.

Das Zusammenspiel der Produktion und der freien Zeit manifestiert sich auch durch die Aufforderung, dass das Verhältnis im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit langfristig reguliert und verändert werden muss. Das bedeutet, dass Reflexionen über diese gesellschaftlich akute Fragestellung das Verhältnis von Produktion, Distribution, Austausch und Konsumation neu entworfen werden müssen. Auch die zunehmende Digitalisierung sowohl der Arbeitszeit als auch der arbeitsfreien Zeit tragen zu diesem Umstand bei. Beispielsweise kann das Surfen im Internet zum Teil als statistische Mitarbeit bei den digitalen Monopolen bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Vorstellung von Marx, oder vielleicht gerade in der Übereinstimmung mit ihr, dass die Produktion durch allgemeine Naturgesetze bestimmt ist, sollen Relationen sowohl im ökologischen als auch im sozialen Sinne neu konstruiert werden. Das zeitliche Beziehungsgeflecht spannt sich zwischen Ideen der körperlichen Performativität, ökologischen Bedingungen, gesellschaftlich determinierten Formen von Produktions- und Distributionsmechanismen und imaginativen Räume auf. Ein Beziehungsgeflecht, das die freie Zeit hinreichend berücksichtigt, könnte zu einer Demokratisierung sowohl der ökonomischen als auch der ökologischen Verhältnisse führen, da nur so gesichert werden kann, dass die gebildeten Zeitkontinua ausreichend Raum für zweckfreie Erfahrungen, Kontakte und Entscheidungen bieten.

Bei der Verhandlung und Reflexion dieser Fragen geht es darum, dass ein freies Verfügen über die Zeiträume, die ein Verweilen in ,anderen’ Räumen als in Arbeitsräumen erlauben, Erfahrungen und politische Bildung erst möglich machen. Diese Räume sind zunächst scheinbar befreit von den in die Arbeit eingeschriebenen gesellschaftlichen Relationen. Auch wenn viele Freizeit als sogenannte freie Zeit perzipieren, kann man sich fragen, ob hier auch eine Art der Differenzierung vorgenommen werden kann. Soll man zwischen vorstrukturierter und konsumorientierter Zeit, in der Freizeitaktivitäten stattfinden und der freien Zeit eine Linie ziehen? Und welche wäre das? Ist die freie Zeit von jeglicher Form des zweckorientierten Produktivitätsbestrebens befreit? Ist sie durch Zufall, Kontemplation, Überraschung und soziale Berührung bestimmt?

Alle Protagonist*innen – ob Flaneur*in, Schachspieler*in , Beobachter*in des Morgenrots oder eine Person, die ihre Zeit gerne lesend in der Datscha verbringt, all diese Figuren können diese Handlungen vornehmen, aber erst dann, wenn sie über ein bestimmtes Kontingent an freier Zeit verfügen.

DIE ERKUNDUNG DER STADT:
MOMENT DER FREIEN ZEIT ODER DOCH AKTIVITÄT IN DER FREIZEIT
In der Arbeit Claudia 1-24 von Marietta Mavrokordatou durchquert die Künstlerin mit ihren Freund*innen die Straßen und Plätze von Nicosia. Im Rahmen dieser Spaziergänge werden Körper-Raum-Beziehungen inszeniert und mittels der Fotografie dokumentiert. Die Stadt verwandelt sich in eine Bühne der Berührungen, die zwischen dem Asphalt, der Haut und der Bewegung oszillieren.

EXPONENTIELLER MOMENT IM RAUM:
ZWANGLOSER ZEITMOMENT
Die Erforschung der Oszillation zwischen der Wahrnehmung und der Darstellung der Wirklichkeit spielt eine zentrale Rolle in Joëlle Tuerlinckx‘ künstlerischem Schaffen. Diese Suche begreift die Künstlerin als momentane Aufnahme, die sich im Rahmen eines gewissen Kontextes, zu einem gewissen Zeitpunkt im Jetzt organisiert und darstellt. In einer Notiz beschreibt sie das Format der Ausstellung folgendermaßen: „Dies ist es, was jede Ausstellung ist: ein exponentieller Moment im Raum, in dem man plötzlich feststellt: man ist hier.“
(Joëlle Tuerlinckx, notes d’exposition, 2001)

MOMENT DES INNEHALTENS: MOMENT DES AUSSTIEGS AUS
ZEITLICHER KONTINUITÄT DES ALLTAGS: REFLEXIONSZEIT
Auch durch die Betrachtung außergewöhnlicher farblicher Ereignisse, wie die des Erscheinens der Aurora Borealis in den südlichen Teilen der Nordhemisphäre, wird ein Moment des Innehaltens hervorgerufen. Inmitten der zahllosen gleichzeitigen, weitgehend verwirrenden, inkohärenten Präsenz von Instagram-Schnappschüssen, Tik-Tok-Präsentationen und Chemtrails & HAARP Conspiracy Theory lässt diese Empfindung die Frage nach dem Zusammenspiel ästhetischer Erfahrung und kritischer Auseinandersetzung mit ökologischen Zusammenhängen der auftretenden Naturphänomene aufkommen. Es entsteht ein Moment des Innehaltens.

ORT DES VERWEILENS: IMPROVISATION:
ZEIT DER UNTERBRECHUNG
Der Moment des Dazwischenseins formuliert sich in jedem aufeinanderfolgenden Zusammenbau der Datscha, die als künstlerische Installation, aber auch als Archiv, als Ausstellungsraum und Ort des Verweilens im Alltag der Künstlerin Anna Hofbauer eine Rolle spielt bzw. gespielt hat. Eine Datscha zeichnet sich durch minimale Infrastruktur aus. Sie symbolisiert eine Form der Entspannung, der Befreiung und der Verbindung mit der freien Zeit.

REISEZEIT: DIE ZEIT DANACH
In windows of W. von Anna Hofbauer geht es um den Moment vor einer Reise, der Zeit der Vorbereitung, der Sehnsucht, um den Blick nach außen, aber auch um die Zeit nach einer Reise, die Verarbeitung des Erlebten, Gesehenen und der Erinnerungen, um den Blick nach innen. Die Auswahl der in windows of W. gezeigten Fotografien beschränkt sich auf Aufnahmen, die zu Hause und vorwiegend aus dem Fenster gemacht wurden. Sie repräsentieren die Abwesenheit der Reise und eine sich überlappende Raum- und Zeiterfahrung, die sich beim Rahmen und Sortieren der Dias in den eigenen vier Wänden einstellt. Das Text- und Bildmaterial stammt aus dem Nachlass von Maria und Josef W.

SPIEL: ZEIT ALS ORT DES WIDERSTANDS
Neun Monate lang wird die kurdische Stadt Miks (im Alt-Armenischen auch Moks genannt) durch Schneefall vom Rest der Welt abgetrennt. In dieser Zeit gehört das Schachspielen zu den wichtigen Tätigkeiten der Bewohner*innen der Stadt. Das Schachspiel trägt zudem eine politische Konnotation – es wird als Überlebensmechanismus der Armenier*innen in den Momenten der politischen Unterdrückung erlebt.

ZEIT DER ANALYSE: ZEIT DER UMWERTUNG DER FRAGE DER FREIEN ZEIT
In ihrer Videoinstallation NEW FEELING widmet sich Maria Meinild der Frage der Macht, der Positionierung und der Empathie – sowohl in intimen Beziehungen als auch in größeren institutionellen Strukturen. Die Arbeit ist vom Psychodrama inspiriert, einer Form der Gruppentherapie, die sich an theatralischen Elementen bedient und mit Spontanität und der Erkundung von Gefühlen und Verhaltensmustern durch Rollenspiele arbeitet.

ZEIT FÜR LUST: FREI_HEIT
Neben der großen Lotusblüte liegt ein im grünen Blatt eingewickelter Fötus. Beide sind Bestandteile einer Lotussuppe. Eine zweite Arbeit aus der Serie Alienfood versammelt farbig inszenierte Gummi Petit-Fours. Beim Betrachten der Fotografien wird die Lust des Genießens geweckt. Dieser Moment birgt in sich etwas Unheimliches, ähnlich wie die pornografisch, ironisch und utopisch inszenierten Schneekugeln, die auf einer Wandkonsole nebeneinander aufgereiht werden. Fragen nach Lust, Intimität und Konditionierung durchdringen einander.