Ausstellung
06.09.24, 19:00 – 15.11.24, 18:00

OHNE RESERVE RAD

STEPHAN PIRKER & WOLFGANG TRAGSEILER
Stephan Pirker & Wolfgang Tragseiler, USF24 – Unbekanntes Spacegarden Flugobjekt, Videoinstallation, 2024 (basierend auf dem getunten Kunstwerk von Alexander Iwanov Zeitmaschine #1, 2020). Foto: Daniel Jarosch

ERÖFFNUNG: FR 06.09, 19:00
PERFORMANCE: Stephan Pirker & Wolfgang Tragseiler
BEGRÜSSUNG: Daniela Lanziner Mühlberger (Obfrau), Ivana Marjanović (Leitung)

Wir schreiben das Jahr 2024… Die zwei aus der vergangenen Zukunft gelandeten Bruchpiloten Stephan Pirker & Wolfgang Tragseiler begeben sich auf die empirische Suche nach Ressourcen. Der Versuch, mit dem gefundenen Treibstoff das Flugobjekt USF24 in Richtung All auf einen Anerkennungsplaneten zu steuern, scheitert im Loop, mit einer weiteren Bruchlandung am Boden der Realität.

Beim Ausstellungs- und Performanceprojekt Ohne Reserve Rad, lädt der Kunstraum Innsbruck zwei Künstler ein, Schnittflächen und Reibungspunkte ihrer künstlerischen Praxis rund um die Themen Scheitern und Spielen, kritische Männlichkeit und Abfall der Konsumgesellschaft auszuloten. Ihr transmediales Arbeitsspektrum umfasst Installationen, Skulpturen, Videos und Performances.

Kuratiert von Ivana Marjanović

Stephan Pirker und Wolfgang Tragseiler kennen einander aus ihrer Studienzeit (Bildhauerei und transmedialer Raum an der Kunstuniversität Linz) in den frühen 2000er Jahren. Ihr Schaffen ist unabhängig voneinander vielfach von Kooperationen und kollektiver Arbeitsweise geprägt (JoechlTRAGSEILER/ Martin & The evil eyes of Nur/ bu’nostik /MullMulla...). Die Ausstellung im Kunstraum Innsbruck ist ihre erste öffentliche Zusammenarbeit, in der sie den Kunstraum zu einem raumgreifenden „Spektakel“ verwandeln, das Kunst, Spiel und Kritik miteinander verbindet. Die beiden Künstler erforschen in ihren Arbeiten die Bruchlinien zwischen der gefühlten Sicherheit und dem ungewissen Risiko. Ihre künstlerische Strategie bildet humorvoll spielerisches Scheitern ab.

Der Titel Ohne Reserve Rad verweist auf die Unmöglichkeit kompletter Kontrolle sowie auf Wagnis und Risiko als Handlungsvoraussetzung trotz der Wahrscheinlichkeit von Fehlern und Scheitern. In den Gesellschaften unserer Zeit scheint Scheitern ein Tabu zu sein, während die öffentlichen Diskurse vorwiegend den individualistischen Imperativ des Erfolgs fördern. Scheitern wird bei den anderen konstatiert und aus einer top-down Position heraus beurteilt und bewertet (1). Daraus resultiert die Angst vor dem Scheitern, die enormen Druck erzeugt, obwohl die Realität viel komplexer ist und das Scheitern genauso zum Leben gehört wie der Erfolg. Ohne Reserve Rad bringt auch „Sicherheit“ ins Spiel (der Begriff wird vor allem in der Politik sehr missbraucht) und wird hier mit Ambivalenzen, realen Lebenssituationen und subjektiven Gefühlen und Ängsten in Verbindung gebracht, die geschürt werden.

Ohne Reserverad zu fahren bedeutet, den Mut zu haben, Dinge zu tun, auch wenn die Umstände nicht optimal sind (zum Beispiel Kunst zu machen, während man in Wirklichkeit ein Lohnarbeiter mit begrenzten Mitteln ist). Auch wenn die Umstände einige Komplikationen und Frustrationen mit sich bringen, wird die ganze Anstrengung akzeptiert, solange sie niemandem und nichts schadet. Dieser Ansatz, gepaart mit einer gesunden Portion Selbstironie, bietet ein gewisses Maß an Freiheit, Unabhängigkeit und Distanz. Das alles spiegelt sich sowohl auf der methodischen als auch der formalen Ebene der künstlerischen Praxis von Pirker und Tragseiler wider. Künstlerische Produktion wird als eine offene und manchmal sogar chaotische Erfahrung verstanden, die sich von der Herstellung klassischer polierter Kunstobjekte entfernt.

Kunstwerke und Kunsträume evozieren für die Künstler die Präsenz eines gewissen Levels an freudvollem Chaos im Leben. Man sollte also lieber auf Überraschungen gefasst sein. 

In der Ausstellung Ohne Reserve Rad entwickeln Pirker und Tragseiler gemeinsam neue Projekte und präsentieren einzelne Werke, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind.

Die Ausstellung wird mit der Zweikanal-Videoinstallation von Wolfgang Tragseiler game (2024) eröffnet. Hier inszeniert der Künstler eine Reihe von Beleidigungen auf humoristische Weise neu. Diese beziehen sich auf die Verarbeitung von Erfahrungen des Herausfallens aus einem normativen Mainstream: das Scheitern als „Junge“, als „Mann“, als „Künstler“ usw. Von eigenen Erfahrungen ausgehend lässt Tragseiler das Publikum durch ein „Tor des Scheiterns“ gehen und hält eine witzige „Reinigungsprozedur“ für die Besucher*innen bereit, wenn diese die Ausstellung betreten. Dies trägt zu einer Atmosphäre bei, in der Sympathie und Respekt für das Scheitern möglich sind.

Das Scheitern ist auch das Thema von Pirkers und Tragseilers Gemeinschaftsarbeit USF24 - Unbekanntes Spacegarden Flugobjekt (2024), einer Videoinstallation, die auf dem Gelände von Pirkers Hütte in Weerberg in Tirol entstand, die er ironisch „Villa Glumpuli“ nennt. Dieser Ort ist eigentlich ein stetig wachsender Skulpturengarten mit improvisierter Architektur, umgeben von upgecycelten Objekten, die über Jahre hinweg gesammelt wurden und einem konstanten Prozess der Transformation und künstlerischen Neugestaltung unterzogen werden. Als Ausgangspunkt haben die Künstler „ein fliegendes Objekt“, ein älteres Kunstwerk im öffentlichen Raum von Alexander Iwanov, Zeitmaschine #1 (2020) aufgewertet. Nachdem sie demontiert werden musste, landete die Zeitmaschine #1 in Pirkers Garten anstatt im Müll.

In dem Video wird die „getunte“ oder „aufgemotzte“ ehemalige Zeitmaschine zu einem UFO-ähnlichen Gefährt zur Erkundung neuer Horizonte im gesamten Universum. Aber scheinbar wird die Mission des Erforschens von der permanenten Anstrengung überlagert, das Raumschiff am Laufen zu halten. Der endlose Bedarf an Ressourcen macht die Reise der beiden künstlerischen Forscher zu einer Art unendlicher Sisyphusarbeit, bei der die Grenzen zwischen Erkundung und Ausbeutung verschwimmen. Ein endgültiges Ziel (vielleicht in Form eines lebenswerten Planeten) scheint lange nicht in Sicht in dem ständigen Bestreben weiterzukommen und durchzuhalten. Es ist ein Spiegel der condition humaine, wenn nicht sogar des Lebens selbst. Ist Kunst machen der Sinn der Kunst? Ist leben der Sinn des Lebens? 

Im Spannungsfeld von konzeptioneller Reflexion und spielerischem Experimentieren erforschen Stephan Pirker und Wolfgang Tragseiler unter anderem Rollenbilder von Männlichkeit im Spiegel gesellschaftlicher Konventionen, kulturelle Klischees und künstlerische Möglichkeitsräume, in denen das „Mann-Sein“ in der Ambivalenz von individuellen Bedürfnissen und kollektiven Erwartungen neu gedacht und gefühlt werden kann. Indem sie sich dem Thema Maskulinität mit den Mitteln der Ironie und (Selbst-)Kritik nähern, reflektieren die Künstler die Machtmechanismen, die sich aus der normativen Verteilung der Geschlechterrollen in den heteropatriarchalen Gesellschaften ergeben. Indem sie ihre eigenen Körper und Persönlichkeiten als Subjekte und Objekte dieser Reflexion nutzen, thematisieren sie Ausschluss und Gewaltformen der patriarchalen sozialen Wahrnehmung und tragen so zu den Kämpfen für die Freiheit des Ausdrucks, Transformation und die Diversität von Identitäten und Lebensstilen bei. Stephan Pirker und Wolfgang Tragseiler schlagen verschiedene Rollen vor, die die Repräsentationen des Mainstreams von Männlichkeit und seine Statussymbole unterminieren.

In der Videoinstallation Happy End – ich warte (2013/2024) performt Wolfgang Tragseiler auf der Straße „in Drag“ mit einem weißen Hemd, einer schwarzen Hose und einer blonden Perücke. Die Arbeit und das Drag-Outfit beziehen sich auf das fotografische Werk des schottischen Künstlers Douglas Gordon mit dem Titel Self-portrait as Kurt Cobain, as Andy Warhol, as Myra Hindley, as Marilyn Monroe (1996). In diesem historischen Kunstwerk verschmolz Gordon ikonische Bilder von berühmten und berüchtigten Blondinen und Blondies, die mit einer Perücke für die Kamera posieren. Indem er eine Referenz auf die romantische Komödie „Pretty Woman“ (1990) hinzufügt, führt Tragseiler die Rolle einer Hollywood-Sexarbeiterin ein, die auf den Straßen von LA wartet (in dem Film spielt Julia Roberts ein junges Mädchen aus der unterprivilegierten Klasse, das zur Begleiterin und Geliebten eines reichen Mannes wird, der von Richard Gere gespielt wird). Der Künstler arbeitet hier mit der Szene in der Szene, der Referenz in der Referenz als Werkzeuge für seine Wiederaneignung.

Er reinszeniert den Moment des Wartens auf der Straße, wo ein Wiener Altbau aus der Zeit des Neoklassizismus durch eine trashige Kulisse verdeckt ist, einem Banner, das eine Straße in L.A. darstellt. Auf dem Bild der Straße ist unter anderem eine Person abgebildet, die vor einem Plakat „Hollywood Home Stars“ sitzt und wartet. Vor diesem Hintergrund läuft der Künstler hin und her und performt Gordon/Roberts neu. Im Kontrast zu dem Film nimmt das Warten hier kein Ende und die Langeweile des Schauspielers (Tragseiler) wird immer größer, während das Video in einem Loop läuft. Tragseiler baut seine Arbeit auf der nicht-binären Repräsentation des Selbstporträts von Douglas Gordon auf und fügt einen humoristischen Touch einer absurden Handlung hinzu, in der nichts passiert. Der Titel der Arbeit Happy End - I wait wirft mehrere Fragen zur Genderrepräsentation, aber auch zu Kunst, kultureller Produktion, Klasse und Privilegien auf.

Im Ausstellungsdesign ist diese Videoprojektion als Hintergrund für Stephan Pirkers interaktive Installation Matilde CB500-024/ Matildomat (ausgedienter Easy Rider - Honda CB 500 Bj.1978, Alteisenmotorrad auf Sockel- exzentrisch mobil mit E- Motor Antrieb, 3,4 x 1,8 x 2,7m) (2024) installiert. Auf diese Weise schaffen die beiden Künstler einen Dialog, der die Mainstream-Männlichkeit verspottet und gleichzeitig die männliche Fragilität thematisiert. Matilde CB500-024/ Matildomat besteht aus Pirkers altem Motorrad Honda CB 500, das in eine Schaukelmaschine verwandelt wurde, die an Fahrzeuge in Vergnügungsparks erinnert, in denen Kinder für eine Münze mitfahren können.

Indem er das Motorrad von einem Werkzeug zur Demonstration hegemonialer Geschlechtsidentität, patriarchaler Macht und „Freiheit“ in ein künstlerisches Spielobjekt für Erwachsene und Kinder verwandelt, schafft Pirker ein spielerisches Kunstobjekt mit dem Label „Saubere Energie“. Mit diesem Werk greift er aber auch eine traumatische Episode aus seiner eigenen Biografie auf, bei der er Zeuge eines schweren Unfalls eines Freundes mit genau diesem Motorrad wurde. Das Motorrad wurde von Pirker über 28 Jahre mitgetragen und zehn Mal übersiedelt, nachdem es nach einem tragischen Unfall in Spanien (verursacht durch einen betrunkenen Polizisten) bei dem sein Freund Falko beinahe sein rechtes Bein verlor, 1996 wegen vieler technischer Mängel (völlig demoliert) aus dem Verkehr gezogen wurde. Nun ist es so weit: Matilde fährt wieder!  Der Matildomat ist nach Einwurf einer 1 € Münze für alle zwei Minuten lang, easy zu riden.

Die Ausstellung zeigt außerdem eine Vielzahl an bizarren Fahrzeug-Kreaturen aus Stephan Pirkers Serie Knochenjäger/ Boneriders (2007-fortlaufend). Bei diesen Skulpturen/Installationen handelt es sich um hybride Objekte, die in der Natur gefundene Materialien wie Knochen, Hörner und Zähne von toten Tieren mit Materialien kombinieren, die man zu Hause im Fundus oder im Müll findet. Tierknochen werden zu Teilen von kaputtem Auto-Spielzeug, Flugzeugen oder Fahrrädern, die mit allem „repariert“ werden, was Pirker in seiner Umgebung findet. Knochenjäger / Boneriders schaffen einen imaginären Raum, in dem die Sphären des Belebten und Unbelebten mühelos ineinandergreifen. Tierknochen und Geweihe werden mit technischen Fragmenten, elektronischen Bauteilen, Spielzeug, Alltagsgegenständen und Müll kombiniert. Sie weisen auf eine belebte Welt hin, in der das Organische und das Anorganische, die Natur und die Technologie ineinanderfließen.

Text: Ivana Marjanović
Intro im Kursiv: Stephan Pirker & Wolfgang Tragseiler

Über die Künstler

Stephan Pirkers Kunst wird von vielen Quellen gespeist und manifestiert sich in Objekten, Installationen und Aktionen an öffentlichen und privaten Orten und in verschiedensten sozialen Kontexten, welche die traditionellen Präsentationsräume von Kunst vielfach überschreiten. In erster Linie Künstler, ist er auch Hirte, Pflegeassistent, Facharbeiter für Maschinenbau, Erlebnispädagoge, Sportler, „Sammler“ und Umweltaktivist. Dieses scheinbar mühelose Überschreiten von konventionellen Kategorien und Grenzen nimmt in seinen Skulpturen und Objekten die Gestalt fantastischer Kreaturen an, die ebenso futuristisch wie archaisch anmuten.

In seinen Performances und Aktionen löst er körperliche Bewegungen und Abläufe aus ihren Kontexten und verwandelt sie spielerisch in Kunst. Da werden Sportgeräte zu Instrumenten und ihre Verwendung erzeugt Musik oder die Handlung des Skispringens hinterlässt Gemälde. Mitunter entlehnt er auch traditionelle Tiroler Brauchtumsformen mit Tanz und Masken und sucht ihre ursprüngliche transformative Kraft für die Gestaltung einer lebenswerten Gegenwart für alle zu reaktivieren. Seine Arbeitsweise ist oft von spontaner Improvisation geprägt. Das Konzeptionelle ist kein starrer Rahmen, sondern bleibt offen für spielerisches Experimentieren hin zu Menschlichkeit, Inklusivität und Lebensfreude. Seine Werke wurden unter anderem beim Festival der Regionen, Ars Electronica, Künstlerhaus Büchsenhausen, Treibhaus Innsbruck, Markt der Zukunft/Das Klimakulturfestival gezeigt. Seine letzte Einzelausstellung fand im Tiroler Landesmuseen/Tirolpanorama mit Kaiserjägermuseum statt.
https://stephanpirker.wordpress.com/

In den Soloarbeiten von Wolfgang Tragseiler setze sich der Künstler mit produzierten und reproduzierbaren Idealbildern der Popindustrie auseinander. Das perfekte inszenierte Medienbild dient als Vorlage für das reale Leben, bleibt aber immer eine Utopie an der Oberfläche. Sein Arbeitsspektrum geht über Videos und Fotos zu Performance hin zur Kunst im öffentlichen Raum. Seit 2014 setzt sich das Künstlerduo joechlTRAGSEILER mit den Hierarchien im Kunst- und Museumsbetrieb auseinander. Durch die Erschaffung von imaginären Museen und Sammlungen untersuchen Alexander Jöchl und Wolfgang Tragseiler mit subtilem Humor vorhandene Machtstrukturen. 2009 bis 2013 arbeitet Wolfgang Tragseiler gemeinsam mit Nora Kurzweil und Daniel Massow in dem Künstlerkollektiv „Martin & The evil eyes of Nur“. In den Performances, Videos und Fotoarbeiten performen zwei selbst ernannte Stars ihre queere Männlichkeit.

Seine Werke wurden unter anderem beim Donau Festival Krems, Blaue Nacht Nürnberg, MOT - Temporary Museum of Contemporary Art Tokyo, Sporobole, Contemporary Art Center Sherbrooke (Kanada) gezeigt. Seine letzte Einzelausstellung fand in das weisse haus in Wien statt.  https://tragseiler.com/

 

  • Gabriele Spindler: failure. Languages and images. In: scheitern. Hg. von Gabriele Spindler. Publikation No1. Bibliothek der Provinz/Stadtgalerie Linz.

VERANSTALTUNGEN WÄHREND DER AUSSTELLUNGSZEIT

EVENT
05.10.24, 18:00
INTERAKTIVES KUNST ERLEBNIS
LANGE NACHT DER MUSEEN MIT STEPHAN PIRKER
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WORKSHOP
19.10.24, 11:00 – 19.10.24, 14:00
VOM EASYBONERIDER BIS ZUM KNOCHENJÄGER
MIT STEPHAN PIRKER
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PERFORMANCE
09.11.24, 19:00
PERFORMANCE & GESPRÄCH IM RAHMEN DER PREMIERENTAGE
STEPHAN PIRKER & WOLFGANG TRAGSEILER
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Teil des Programms der Tage der Klimakultur

EVENT
08.10.24, 13:00 – 12.10.24, 13:00
DIAMETRALE 24
im Kunstraum Innsbruck
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