Ausstellung
06.11.98 – 14.01.99

EL PUNTO CIEGO

SPANISCHE KUNST DER 90ER
Kunstraum Innsbruck, Ausstellungsansicht: EL PUNCTO CIEGO. SPANISCHE KUNST DER 90ER, 1998.

Kurze Zeit nach dem Tod General Francos im Jahre 1975 richtete die internationale Künstlerszene besonderes Augenmerk auf die Geschehnisse in Spanien. Obwohl Spanien unbestritten einige Jahre lang international „in Mode“ war, brachte es die Normalisierung der spanischen Demokratie sowie die völlige politische und administrative Eingliederung Spaniens in den westeuropäischen Kontext mit sich, daß das Interesse an der Neuheit, wie die Neuheit selbst, langsam schwand.

Zusätzlich förderte die spanische Politik die Bekanntmachung der Arbeiten der jungen Künstler im Ausland während dieser Zeit fast gar nicht und dies - verbunden mit einem kaum vorhandenen Markt für Kunstsammlungen in Spanien - hat dazu geführt, daß die spanische Kunstszene sehr bald wieder aus dem Scheinwerferlicht des internationalen Interesses verschwand. Der gewählte Titel versucht zunächst dieses „Entschwinden“, dieses Verschwundensein der spanischen Kunstszene aus dem internationalen Blickfeld widerzuspiegeln.

Es ist dies eine Mißachtung, die äußerst ungerecht ist, umso mehr als die spanische Kunst, der vor 15 Jahren so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, in Wirklichkeit ziemlich dürftig war und die damals vorherrschenden internationalen Strömungen (die Transavantgarde und den Neoexpressionismus) nachahmte. Was im Gegensatz dazu in den 90er Jahren in Erscheinung tritt, ist eine großartige, autochtone und originelle Kunst, die sowohl im Umgang mit der internationalen Szene und den Themen, die deren Schwerpunkte bilden, als auch im Umgang mit ihren eigenen lokalen Ausrichtungen gereift ist. Unglücklicherweise finden diese neuen Werke der spanischen Kunst der 90er Jahre seitens der internationalen Szene kaum Beachtung. Spanien ist für deren Blickrichtung erneut zu einem „toten Winkel“ geworden.

Wahrscheinlich liegt einer der Gründe - abgesehen von den bereits erwähnten gesellschaftspolitischen - für diese neue Blindheit in der Tatsache, daß die spanischen Künstler nicht das machen, was von ihnen erwartet wurde oder was von ihnen erwartet werden konnte. Kurz gesagt, sie verhalten sich im Vergleich zur westlichen Kunstszene nicht wie „andere“ (im Gegensatz zu dem, wie spezielle geopolitische Verhältnisse wie die asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen in das neue multikulturelle Klima eingegliedert werden). Die spanischen Künstler hingegen stellen sich selbst nicht dar, indem sie eine eigene „sich unterscheidende, kulturelle Identität“ zur Schau stellen, sondern sie sehen sich als rechtmäßige Mitglieder dieser westlichen Kultur, wenngleich sie diese Mitgliedschaft auch außergewöhnlich kritisch betrachten. Dies geschieht wahrscheinlich zur Überraschung der selben „westlichen“ Kultur, die immer noch in einem ausschließenden Ethnozentrismus versunken ist, der die „anderen“ nur in ihrer Eigenschaft als „andere“ zuläßt.

Die spanischen Künstler arbeiten an den gleichen wesentlichen Fragekomlexen der westlichen Tradition, indem sie die Tradition der Avantgarde und die Darstellungsproblematik, die für die neuen Gesellschaften charakteristisch ist, in Frage stellen und gleichzeitig radikale Kritik an der Aufstellung jeglicher Identitätsregeln ausüben, seien sie subjektiver, sexueller oder kultureller Natur, die Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben. Es ist offensichtlich, daß sie nicht Schema von der Art des „genius loci“ voranstellen, wie sie es vor 15 Jahren taten und dadurch internationale Beachtung fanden, allerdings um den Preis, als „die letzten anderen“ bezeichnet worden zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Arbeit und das Werk der spanischen Künstler der 90er Jahre sich nicht auf eine eigene und spezifische Weise unterscheiden ließe, und daß man in ihnen nicht etwas anderes als das mimetische Echo der vorherrschenden Regeln in der internationalen Szene feststellen könnte. Es ist gerade das Ziel der Ausstellung, diesen Unterschied hervorzuheben, der die äußerst originelle Einzigartigkeit ausmacht - eine Einzigartigkeit, die auf profunder Kritik beruht und bestätigt, daß die spanischen Künstler zur Gänze dem Arbeitsgebiet angehören, das die Fragestellung der neuen internationalen Szene kennzeichnet.

Man kann diese Einzigartigkeit auf das Erbe einer Tradition des Mißtrauens gegenüber der Darstellung zurückführen, die typisch spanisch ist: der barocken Tradition. Diese Tradition, die ihre Skepsis dahingehend veranschaulichte, indem sie immer zeigt, wie der Darstellungsraum - genau wie das Gesichtsfeld - strukturell bedingt um einen „blinden Punkt“, um einen nicht darstellbaren Kern angeordnet ist, verbindet die spanische Kunst einerseits mit dem europäischen Nihilismus, der in Österreich während der Jahrhundertwende von besonderer Bedeutung war. Andererseits ist sie mit der zeitgenössischen kritischen Dekonstruktion des westlichen Logozentrismus verwandt und bringt dies durch ein kritisches Mißtrauen gegenüber der Macht der Vernunft und des Diskurses, ja der Sprache selbst zum Ausdruck, um ein System zu schaffen, das der Abbildung der Welt völlig gerecht wird.

Wenn man als Beispiel für diese kritische spanische Tradition Las Meninas von Velasques betrachtet, so wird verständlich, wie gerade diese Darstellung des „blinden Punktes“ - er wird in Las Meninas durch das dem Blick des Betrachters verborgene Bild dargestellt, der nur seine Rückseite sehen kann - zur Gestalterin eines barock-konzeptionistischen Stils wird, der Ausdruck eines Weltverständnisses ist. Die Funktion des Darstellungsraumes besteht darin zu zeigen, daß der Mechanismus des Sehens oder die Darstellung stets verdeckt, daß dabei immer etwas „entzogen“ wird - wie das Auge dem Gesichtsfeld oder das Subjekt dem Bewußtseinsfeld - etwas, das immer abwesend, immer „fehlend“, zugedeckt ist. Eben dieses „Entzogene“ - dem Blick oder der Abbildung - darzustellen, ist genau das Ziel, das charakteristisch für eine dieser heimischen Tradition besonders eigenen Art ist. Sie schließt nahtlos an die wichtigsten , aktuellen, kritischen Traditionen an, die unserer Zeit der Unsicherheiten eigen sind - einer Zeit, in der gerade die Verwechslung zwischen Fiktion und Realität durch die Invasion der Welt durch die Medien sich mehrfach wiederholt.

Logischerweise kann dieses Problem des „blinden Punktes“ heutzutage nicht mit den Begriffen der früheren Versuche, die rein „optischer“ oder „theatralisierender“ Natur waren, - Verzerrung, trompe l’oeil, Bild innerhalb des Bildes, etc. - gelöst werden, wie es in der Zeit des klassischen Barocks geschah. Heute bezwecken die Darstellungsstrategien ein kritisches Infragestellen, das spezifisch dafür ist, wie das Bild in der heutigen Gesellschaft dargestellt wird: Deshalb zielen sie zur Gänze auf das Gebiet der modernen technischen Ausdrucksmöglichkeiten des Bildes und der neuen Medieneinrichtungen ab. Aus diesem Grund arbeiten die meisten Künstler mit neuen Technologien des Einfangens, der Manipulation und der öffentlichen Publikation des Bildes und zeigen auf diese Weise, bis zu welchem Punkt die zeitgenössische Konstruktion der Darstellung, die Konstruktion des Bildes, von einer beliebigen „Realität“ ähnlichen Entzogenheit abhängig ist.

Davon ausgehend verbindet sich die kritische Reflexion - und damit die Betrachtungen über den „blinden Punkt“ der Darstellung - mit einer systematischen Kritik am Schauspiel als vorherrschende, die heutige Lebensweise bestimmende Kategorie. Sie wird dazu beitragen, die Konditionierung der Erfahrungen durch das audiovisuelle Medium in der heutigen Gesellschaft kritisch aufzudecken. Deswegen legt die Inszenierung des „blinden Punktes“ als verabsolutierte Vermittlerin von Erfahrungen mittels der Darstellung heute dar, wieweit die Immersion und die gegenseitige Kontamination zwischen Schein und Realität und der dem Schauspiel innewohnenden Illusion fortge-schritten ist. Ihr Ziel wäre in letzter Instanz die Beweisführung des fiktiven und narrativen Charakters der Konstruktion des Realen selbst, das sich - laut der bekannten Bezeichnung Calderóns - tatsächlich als „großes Theater der Welt“ darstellt.

So ist die Offenlegung des „blinden Punktes“ gleichzeitig kritische Übung, die die Macht der Darstellung in der heutigen Gesellschaft entblößt. Die spanischen Künstler besitzen wahrscheinlich ein besonderes Kulturgut (ihr Erbe des barocken konzeptistischen Vermächtnisses), das sie dazu befähigt, sich mit eigenen Wertvorstellungen in dieses internationale, multikulturelle Programm, das die Probleme der heutigen Gesellschaft kritisch analysiert, einzugliedern. Sie haben einen natürlichen Bezug zu den neuen kritischen Strömungen der heutigen, narrativen Fotografie, der Videoinstallation und allen Experimenten, die darauf abzielen, die Prozesse der fiktiven Konstruktion der Identitäten zu entblößen (und zwar sowohl auf subjektiver, affektiver und persönlicher Ebene, als auch auf der Ebene der Gemeinschaften und der kulturellen, ethnischen oder mikrosozialen Identitäten). Dank diesem Mechanismus können die spanischen Künstler gleichzeitig leicht mit den Programmen der internationalen Avantgarde und dem reichen Erbe ihrer eigenen kulturellen Tradition in Dialog treten. Es ist gerade das Ziel der Ausstellung diesen „blinden Punkt“ zu beleuchten, der wahrscheinlich der Ort ist, an dem sich diese beiden scheinbar so weit voneinander entfernt liegenden Welten verketten - die der kritischen Tradition der Postmoderne und die der heimischen spanischen Tradition, die aus dem Erbe des barocken Konzeptismus schöpft.

José Luis Brea

Kunstraum Innsbruck, Ausstellungsansicht: EL PUNCTO CIEGO. SPANISCHE KUNST DER 90ER, 1998.