KRIS MARTIN

Kuratiert von Veronika Sandbichler, Karin Pernegger
Im Rahmen ihrer ersten Zusammenarbeit geben das Schloss Ambras Innsbruck und der Kunstraum Innsbruck einen umfassenden Einblick in das Werk des belgischen Künstlers Kris Martin (1972). In seinen Werken stellt er mittels minimaler Eingriffe gefundene Alltagsobjekte in neue Sinnzusammenhänge, die uns nach Themen wie Leben und Tod, Sein und Endlichkeit und unserer Existenz an sich befragen. Martin bezeichnet sich selbst jedoch nicht als Konzeptkünstler, da er seinen künstlerischen Impuls aus der intensiven Rezeption und Auseinandersetzung gewinnt, anstatt einer Konzeptidee folgend ein Objekt zu suchen und sich anzueignen. Kris Martin ist eher ein Bildersammler und Weltenwanderer, denn seine sanften und subtilen Eingriffe lassen uns staunen, wie sie uns zum Nachdenken bringen. In diesem Sinne spannt seine vielfältige Arbeitspraxis einen Bogen zwischen der Historie des gefundenen Objekts und seinem Widerhall in der Gegenwart, was beide Institutionen – das Schloss Ambras Innsbruck mit seinen historischen Sammlungen und den Kunstraum Innsbruck mit seiner Plattform für zeitgenössische Kunst – darin bestätigte, das Werk von Kris Martin im Dialog auszustellen.
Anlässlich der Ausstellung im Kunstraum Innsbruck zeigt Martin seine neue Werkserie „Lechtaler Impressionen“ (2014), bestehend aus 69 schwarz-weißen Buchseiten des von Fritz Honold 1968 unter gleichem Titel veröffentlichten Bildbands. Die Natur- und Landschaftsansichten zeigen das bäuerliche und beginnende touristische Leben im damaligen Tiroler und Vorarlberger Lechtal. Kris Martin hat jedes Blatt mit einem einzelnen schwarzen Fingerabdruck verändert. Die individuelle Markierung entschlüsselt im semiotischen Sinne einen Index, dessen Zeichencharakter aus einer direkten, physischen Beziehung zwischen Künstler und dem bezeichneten, historischen Bild resultiert. Der künstlerische Eingriff verändert unseren Betrachtungswinkel und lässt uns kritisch über den Wandel des Bergbilds und seiner Naturwahrnehmung nachdenken.
Darauf beziehen sich auch die drei Skulpturen der sechsteiligen Werkserie „Summit“ aus dem Jahr 2009. Die der Romantik entlehnte Vorstellung einer erhabenen Bergwelt wird in seiner Bildgewaltigkeit miniaturisiert. Im Angesicht der mit kleinen Papierkreuzen bestückten Berggipfel spürt der Betrachter die Fragilität seiner eigenen Existenz und empfindet Demut gegenüber den Naturgewalten der Berge. Kris Martin sensibilisiert unsere Wahrnehmung mit der Detailgenauigkeit seiner Skulpturen und Interventionen, die eine poetische wie auch lakonische Sicht auf unsere Welt entwerfen. So ergeht es uns auch mit der Biene, die lebensgroß in Gold gefasst am Rücken liegend in der Vitrine ruht. Welchen Wert messen wir der Biene zu? Den edlen Materialwert oder den ihrer Leistung, da ohne Bienen – trotz all unserer Innovation und Techniken – ein Überleben auf der Erde kaum vorstellbar ist. Die Werkserie „End-Points“ unterstreicht abschließend in der Ausstellung unser Zeitgefühl und der daran angeschlossenen Endlichkeit unseres Seins. Kris Martin hat den Punkt des Schlusssatzes seiner Lieblingsbücher ausgeschnitten und proportional auf ein neues Blatt geklebt, da der Autor mit dem finalen Schlusspunkt uns innehaltend in eine große Leere entlässt.
In der Bacchusgrotte des Schloss Ambras Innsbruck zeigt Kris Martin die Bronzeskulptur „Noah“ (2011). Die lebensgroße Darstellung eines toten Vögelchens aus dem 19. Jahrhundert hat er mit einem Weinkrug versehen. Der einst tot anmutende Vogel wird damit zum trunkenen und schlafenden Protagonisten seiner Intervention im einstmaligen Weinkeller von Erzherzog Ferdinand II. Der biblische Noah sandte einen Vogel nach dem anderen aus der Arche aus, um herauszufinden, ob die Sintflut vorüber sei. Von Noah heißt es auch: „Er pflanzte als Erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken.“ „Noah“ ist der Titel der Arbeit des belgischen Künstlers Kris Martin, die in der Bacchusgrotte von Schloss Ambras zu sehen ist. Es ist ein kleiner Vogel aus Bronze, der ein silbernes Weinkrüglein in der Kralle hält. „Noah“ heißt auf Hebräisch „Ruhe“. Und hier, in der Bacchusgrotte, ruht er mit geschlossenen Augen und spannungsloser Körperhaltung – ein anspielungsreicher Gruß an Bacchus, den heidnischen Gott der Trunkenheit?
Der Ort der Ausstellung eröffnet eine weitere Ebene der Interpretation: die Grotte bietet Schutz wie eine Arche und war zu ihrer Entstehungszeit Ort geheimnisvoller Riten. Hier fand unter Erzherzog Ferdinand II. der „Ambraser Willkomm“ statt, eine Empfangszeremonie, in deren Verlauf die Teilnehmer eine Trinkprobe bestehen mussten, um Aufnahme in das Heiligtum des Bacchus zu finden. Und nicht zuletzt steht „Noah“ auch in Beziehung zur Ambraser Kunstkammer: Europäische Fürsten wie Erzherzog Ferdinand II. waren begeistert von der Idee, die Natur täuschend echt nachzuahmen, was in der Technik des Naturabgusses seinen augenfälligsten Ausdruck findet. Wer Kris Martins “Noah“ betrachtet, wird sich dazu aufgefordert sehen, über die Vielschichtigkeit des Rausche(n)s, ob es nun das Wasser der Sintflut hervorruft oder der Wein, der in den Kehlen der Gäste beim Trinkritual des „Willkomm“ verebbt, genauso nachzudenken wie über die Natur und deren Imitation – ein Thema, das auch die Ausstellung im Kunstraum Innsbruck bestimmt.
